Ein Indianer kennt keinen Schmerz

Schmerzbewältigung für Männer

 

Ein Indianer kennt keinen Schmerz – das ist ein alter Spruch. Und er bedeutet, wenn er sich auf Männer bezieht, dass Schmerz nicht erlaubt ist. Zumindest ist es nicht erlaubt, Schmerz zu zeigen. Deutlich zu machen: da tut mir etwas weh. Manche Männer kennen solche Prägungen aus der Erziehung. Es war nicht erlaubt, Tränen zu zeigen. Schmerz ist Schwäche. Männer werden dann zum Feigling, zum Weichei. Zum Jammerlappen. Und das geht natürlich nicht. Und so kommt es, dass Männer oft mit ihrem Schmerz allein bleiben. Männer zeigen keinen Schmerz. Oder verkneifen sich wenigstens so viel wie nur irgend möglich. Bloss keine Schwäche zeigen!

 

Schmerzbewältigung soll nicht bedeuten, zum Weichei zu werden. Sich im Schmerz zu baden. Nur noch zu jammern. Mit Schmerzen umgehen zu lernen setzt voraus, den Schmerz an sich zunächst einmal anzunehmen. Das ist vielleicht schon ein schwerer Schritt, und mir ist klar geworden, dass manche gerade an diesem Schritt schon scheitern. Den Schmerz willkommen heißen.

Entdecken, was Schmerz eigentlich bedeutet. Ich bin noch am Leben. Ich kann etwas empfinden. Bin nicht unverletzlich, nicht unsterblich.

Als Kind habe ich Erfahrungen gemacht. Es gab vielleicht einmal einen Kratzer, einen Sturz, einen Bruch. Laufen zu lernen bedeutete, immer wieder hinzufallen. Aber eben auch, immer wieder aufzustehen. Vielleicht habe ich gelernt, Tränen zu unterdrücken. Oder trotzdem weiter zu machen. Vielleicht gab es Gründe, über den Schmerz hinwegzusehen. Ihn erstmal wegzustecken. Wir sind dafür geschaffen, sind in der Lage, Schmerz zu unterdrücken. Bis zu einem gewissen Grad wenigstens. Und ganz bestimmt, wenn es darauf ankommt.

 

Die entscheidende Frage ist: habe ich Schmerzen, oder haben meine Schmerzen mich?

Kann ich mich mit dem Gedanken anfreunden, dass mein Körper nicht bestimmen soll, was ich denke? Kann ich mich mit dem Gedanken anfreunden, mich mit meinem Schmerz zu beschäftigen, ihn zu fragen, was er mir sagen will? Ob ich ihm Raum gebe oder ob es auch einmal Situationen gibt, in denen ich wichtige Dinge zu tun habe und deshalb nicht auf ihn eingehen will?

 

Es erfordert Mut, sich dem eigenen Schmerz zu stellen. Und damit meine ich nicht nur den körperlichen Schmerz. Auch die Misserfolge, die verlorenen Kämpfe, das unangenehme Gefühl, irgendwo irgendwann unterlegen gewesen zu sein, etwas nicht erreicht zu haben, etwas nicht oder nicht mehr zu können. Den psychischen Schmerz beim Rückblick auf das, was im eigenen Leben besser hätte laufen können. Den sozialen Schmerz durch Demütigung, Missachtung, Ablehnung, fehlende Wertschätzung. Männer werden nicht dazu erzogen, Schwäche zeigen zu dürfen. In einer leistungsorientierten Konkurrenzgesellschaft kann man sich keine Schwächen erlauben.

 

Aber für sich selbst, ganz mit sich allein, dort wenigstens sollte Raum sein, sich ganz nüchtern zu betrachten.

Ich kann etwas wissen und dazu lernen, aber ich werde nie ein Alleswisser sein.

Ich kann etwas können und dazu lernen, aber ich werde nie ein Alleskönner sein.

Ich kann Fähigkeiten entwickeln, aber es wird auch immer Grenzen geben.

Älter zu werden bedeutet, dass mein Körper nicht mehr so widerstandsfähig ist. Empfindlicher reagiert. Mehr Rücksichtnahme und Fürsorge braucht.

 

Wenn Männer lernen, mit Schmerz umzugehen, dann lernen sie auch, auf sich selbst zu achten,

sich mehr um sich selbst zu kümmern. Und: sehr bewusst und gezielt auf ihren Schmerz einzuwirken.

Es ist eine sehr wichtige und grundsätzliche Aussage, die man sich immer wieder durch den Kopf gehen lassen kann: Ich bin meinem Schmerz niemals völlig hilflos ausgeliefert.

Solange ich noch denken kann, kann ich meinem Schmerz immer etwas entgegensetzen.

Schmerzbewältigung hat viel mit Vernunft zu tun. Die Unbefangenheit des jungen Helden, der sich in jedes Abenteuer wagt und seine Grenzen austestet, kann immer mehr der Weisheit des Älteren weichen. Und Weisheit bedeutet dann, sich bestimmte Dinge einfach nicht mehr zuzumuten.

Bewegung, Anstrengung, Training, Sport, ja. Aber auf den Sprint, das Maximum, das Leben am Limit, darauf sollten wir mit zunehmendem Alter verzichten. Es wird wichtiger, nachlassende Kräfte bewusster einzusetzen. Klüger zu handeln. Umsichtiger, vorsichtiger, achtsamer. Unnötigen Schmerz vermeiden.

 

Ich möchte Sie jetzt auffordern, in Gedanken ein Messer in die Hand zu nehmen. Vielleicht haben Sie auch eines zur Hand. Über das Messer zu meditieren zeigt uns viel über den Schmerz.

 

Ein Messer kann ein Werkzeug sein. Und eine Waffe. Spüren Sie die Klinge, ihre Schärfe?

Man kann mit der Klinge leicht über den Arm streichen und sich vorstellen, wie es sich anfühlen würde, wenn das Messer die Haut ritzt, wie es sich anfühlt, wenn Blut fließt. Der kluge Krieger lernt, mit dem Messer umzugehen. Ein Werkzeug einzusetzen bedeutet auch, sich der Gefahren bewusst zu sein, die mit seinem Gebrauch verbunden sind. Man kann sich selbst verletzen. Oder auch etwas zerstören. Die Möglichkeit, andere mit einem Messer zu bedrohen, ist mit dem Wissen um den Schmerz verbunden, den man damit auslösen kann. Die Angst vor dem Messer anderer ist verbunden mit dem Wissen um den Schmerz, den ich selbst erfahren könnte.

 

Stellen Sie sich jetzt ihren Arbeitsplatz vor. Vielleicht gibt es auch dort Gefahren, sich zu verletzen oder Schmerz zu erfahren, der vermeidbar wäre. Männer, die sich über Sicherheit Gedanken machen, haben meist selbst Schmerz erfahren. Sich einmal einen Finger eingeklemmt, geritzt, ein schweres Gewicht auf dem Fuß erlebt und dann vielleicht beschlossen, Sicherheitsschuhe zu tragen.

Auf irgendeine Art kann Schmerz der Anlass sein, fürsorglicher und mehr auf Sicherheit bedacht zu handeln. Autofahrer fahren dann bewusst defensiv, meiden die Überholspur und reizen ihr Fahrzeug nicht mehr bis zum letzten aus. Halten Abstand. Fahren vorsichtiger.

 

Schmerz ist auch ein Lernimpuls. Schmerz schafft Werte. Dort, wo ich mir die wertvollen Impulse bewusst mache, die Schmerz auslösen kann, verliert der Schmerz an Schrecken und gewinnt an Wert. Die Frage ist, was nützt mir das, wenn mir gerade, jetzt im Moment etwas weh tut?

Ich kann meine Aufmerksamkeit steuern. Anstatt in Selbstmitleid zu versinken, mich von meinem Schmerz einfangen und beherrschen zu lassen, kann ich versuchen, meine Gedanken auf etwas Konstruktives zu lenken. Vielleicht kann ich lernen, den kleinen Jungen in mir selbst wieder wahrzunehmen und mir vorzustellen, was ich als Erwachsener tun könnte, um ihm zu helfen. Setze ich mich und bedaure ihn, sage ich ihm, wie schlimm das doch ist, wenn man sich gekratzt hat oder suche ich ein Pflaster? Die Aufmerksamkeit auf etwas Konstruktives zu lenken bedeutet nicht, den Schmerz zu ignorieren. Es bedeutet, mehr nach dem zu fragen, was hilft. Es mag wichtig sein, sich dem Schmerz zuzuwenden, herauszufinden, was da vielleicht nicht in Ordnung ist. Schmerzbewältigung bedeutet aber auch, die Aufmerksamkeit vom Schmerz weg lenken zu können.

Eine ganz einfache Methode dabei ist, sich auf den eigenen Atem zu konzentrieren.

Immer langsamer, immer ruhiger, immer tiefer zu atmen.

Immer langsamer.

Immer ruhiger.

Immer tiefer.

Beim Ausatmen gebe ich meinem Atem alles mit, was weh tut.

Wenn der Kopf wieder klar ist, konzentriere ich mich auf das, was wichtig ist, was ich tun kann.

 

Ich glaube nicht, dass die Indianer keinen Schmerz kennen. Die klugen, die weisen Männer kennen ihn sehr wohl. Nur zu gut kennen sie ihn. Aber sie haben gelernt, mit ihm umzugehen.